Theologie und Glaube Ausgabe 2/2022

Theologie und Glaube

Jahrgang 112
Ausgabe 2/2022

Mit Beiträgen von Bernd Irlenborn, Johannes Brachtendorf, Wolfgang Thönissen, Maureen Junker-Lenny, Michael Kühnlein und Daniel Bauer.

 

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!

Als Neunzigjähriger hat Jürgen Habermas 2019 mit „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ein monumentales und eminent lehrreiches Buch veröffentlicht. Auf 1700 Seiten rekonstruiert er in subtilen Analysen den langen und komplexen Entstehungs- und Emanzipationsprozess des säkularen bzw. nachmetaphysischen Denkens aus dessen Verbindung mit dem religiösen Glauben, ausgehend von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart. Den größten Teil des Buches macht die Darstellung entscheidender Etappen in einer Genealogie des philosophischen Denkens seit der Antike aus, in der christlicher Glaube und Vernunft noch kooperierten, bevor sie sich in der Reformation voneinander trennten und das säkulare Wissen sich unabhängig von der religiösen Überlieferung „nachmetaphysisch“ weiter entwickelt hat. Habermas’ faszinierende Genealogie der säkularen Denkform mit ihren heutigen szientistischen und naturalistischen Gefährdungen eröffnet nicht nur für die Philosophie, sondern gerade auch für die Theologie eine Vielzahl neuer Einsichten und provoziert in konstruktiver Weise eine kritische Auseinandersetzung. Das vorliegende Themenheft von Theologie und Glaube will einen Beitrag zur Debatte um „Auch eine Geschichte der Philosophie“ leisten, indem wichtige Themenstränge des Buches aufgegriffen und kritisch beleuchtet werden.

Im einführenden Beitrag werden von mir, Bernd Irlenborn, für Leserinnen und Leser, die nur wenig oder gar nicht mit Habermas’ umfangreichen Buch vertraut sind, Grundlinien seines Inhalts nachgezeichnet, denen sich zwei kritische Nachfragen zur Bedeutung der Religion und zum Begriff der Metaphysik anschließen. Der Augustinus-Experte Johannes Brachtendorf sichtet Habermas’ Deutung des spätantiken Kirchenvaters, der eine Schlüsselstelle in der Genealogie einnimmt. Brachtendorf zeigt, dass Habermas’ Augustinus-Interpretation insgesamt durchaus ausgewogen ist, im Einzelnen aber zentrale Aspekte, die für die Genealogie aufschlussreich gewesen wären, unberücksichtigt bleiben – wie etwa die Herausstellung des präreflexiven Selbstseins in „De trinitate“. Der Ökumeniker Wolfgang Thönissen untersucht in seinem Beitrag Habermas’ Analyse der Theologie Martin Luthers. Dabei wird ersichtlich, dass Habermas in aller Deutlichkeit die weltgeschichtliche Zäsur der Reformation erkennt, dabei aber auch kritisch die Ambivalenz in Luthers Rechtfertigungslehre sieht, wenn in deren Konsequenz die göttliche Gnade die menschliche Handlungsfreiheit aufzuheben droht. Die in Dublin lehrende Habermas-Spezialistin Maureen Junker-Kenny geht in ihrem Beitrag auf den historischen Bogen ein, den Habermas’ Genealogie vom christlichen Glauben bis zur 82 Editorial Gegenwart spannt. Dabei entdeckt sie in Habermas’ Privilegierung der paulinischen Theologie mit ihren kultischen Aspekten eine Engführung des christlichen Glaubens, die in der Genealogie zu der für Junker-Kenny problematischen, ritualfokussierten Bestimmung heutiger Religion als das „Andere“ der Vernunft führt. Der Religionsphilosoph Michael Kühnlein, der vor allem durch seine Publikationen zu Charles Taylor bekannt ist, sondiert kritisch Habermas’ Übersetzungsbegriff in „Auch eine Geschichte der Philosophie“. Dabei macht er auf eine „Übersetzungs- und Wahrheitsambivalenz“ bei Habermas aufmerksam, die vor allem bei dessen Interpretation der existenziell orientierten und sich gegen eine Übersetzung in eine säkulare Sprache sperrenden Entwürfe von Blaise Pascal und Søren Kierkegaard deutlich wird. Der evangelische Theologe und Habermas-Kenner Daniel Bauer rekonstruiert aus praktisch-theologischer Perspektive die Lernpotenziale, die der christliche Glaube aus Habermas’ Genealogie für seine Selbstverortung in einer säkularen Moderne gewinnen kann. Im Fokus stehen dabei die performative Dimension und die symbolische Sprache der Religion. Die christliche Präsenz- und Partizipationserfahrung als Sein in Christo (Luther) sei an ihren Vollzugsmodus gebunden und könne symbolisch nur dargestellt, aber nicht diskursiv eingeholt werden – was eine Grenze für Habermas’ Übersetzungsprojekts markiere.

Ich danke der Autorin und den Autoren für ihre Beiträge und wünsche dem Themenheft eine interessierte und wohlwollende Aufnahme bei den Leserinnen und Lesern von Theologie und Glaube.

 

Bernd Irlenborn

 

Nachmetaphysische Philosophie und religiöser Glaube. Eine kritische Einführung in Jürgen Habermas’ „Auch eine Geschichte der Philosophie“.

DE: Jürgen Habermas’ „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ist eine faszinierende Großerzählung zur geschichtlichen Entwicklung des nachmetaphysischen Denkens aus der Symbiose mit dem religiösen Glauben, die auch für das christliche Denken zahlreiche wichtige Anregungen eröffnet. Der vorliegende Beitrag versteht sich als eine Einführung in das Buch, verbunden mit zwei kritischen Nachfragen zur Bedeutung der Religion für das säkulare Bewusstsein und zu Habermas’ Begriff von Metaphysik.

EN: “This Too a History of Philosophy” by Jürgen Habermas is a fascinating master narrative of the historical development of postmetaphysical thinking from its symbiosis with religious belief. It also offers meaningful insights for Christian thinking. The following article provides an introduction into the book and raises two critical questions regarding the importance of religion for secular consciousness and Habermas’s definition of metaphysics.

Augustinus und Habermas’ „Genealogie nachmetaphysischen Denkens“.

DE: Mit seinem neuen, umfangreichen Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019) setzt Habermas die im Jahr 2001 vollzogene Wende in seiner Einschätzung der Religion fort. Er zeichnet eine „Genealogie nachmetaphysischen Denkens“, derzufolge die Osmose von Philosophie und Theologie, wie sie in der christlichen Spätantike geschehen ist, das philosophische Denken bis heute nachhaltig beeinflusst. Augustinus ist Habermas zufolge der wichtigste Denker dieser Epoche. Der vorliegende Beitrag stellt die Bedeutung des Denkens Augustins für Habermas’ „Genealogie nachmetaphysischen Denkens“ dar und prüft dessen Augustinus-Interpretation kritisch.

EN: In his new, comprehensive book “This Too a History of Philosophy” from 2019, Habermas extends the reversal he began in 2001 concerning his estimation of religion. He outlines a “genealogy of postmetaphysical thought” according to which the osmosis of philosophy and theology, as it occurred in Christian Late Antiquity, has enduringly influenced philosophical thinking. For Habermas, Augustine is the most important thinker of this era. This article delineates the significance Habermas attributes to the thought of Augustine for his “genealogy of postmetaphysical thought” and critically examines Habermas’s interpretation of Augustine.

Die Entkopplung des Heils von der Gerechtigkeit? Martin Luther in der Sicht von Jürgen Habermas.

DE: Im Kontext der an Glauben und Wissen orientierten Geschichte der Philosophie spielt Martin Luthers Gnaden- und Rechtfertigungslehre eine über die Theologie selbst hinausgehende Rolle für die gesamte okzidentale Philosophiegeschichte. Die radikale Reduktion und Zentrierung der Theologie auf die Rechtfertigung des Sünders zeitigt eine Reihe von Folgen, die das Verhältnis von Theologie und Soteriologie sowie von Recht und Theologie inklusive des Naturrechts betreffen. Die von Luther exponierte Idee der rettenden Gerechtigkeit beeinflusst bis heute auch die katholische Theologie in ihrer Verhältnisbestimmung von Gott, Mensch und Welt.

EN: In the context of the history of philoso-phy oriented toward faith and knowledge, Martin Luther’s doctrine of grace and justification plays a role that goes beyond theology itself for the entire history of occidental philosophy. The radical reduction and centering of theology on the justification of the sinner provokes a number of conse-quences that affect the relationship between theology and soteriology and the relationship between law and theol-ogy, including natural law. The idea of saving justice exposed by Luther still determines Catholic theology in its definition of the relationship between God, man, and the world.

Vom „paulinischen Christentum“ zum „Anderen“ der Vernunft im nachmetaphysischen Denken.

DE: Ausgehend von den Stationen der Entwicklung zum postmetaphysischen Denken zeigt der Aufsatz einen Zusammenhang zwischen der Wahl des „paulinischen Christentums“ als dem religiösen Ausgangspunkt der okzidentalen Denkentwicklung und der abschließenden Beurteilung der Religion als das „Andere“ der Vernunft bei Jürgen Habermas auf. Die Evangelien über das Leben Jesu gehören zur Wirkungsgeschichte und betonen wie die antignostischen Patristiker die menschliche Freiheit. Eine autonome Vernunft ist nicht gleich „säkular“, sondern vereinbar mit dem Gottesglauben.

EN: Beginning with the stations of the development towards postmetaphysical thinking, the article establishes a connection between the choice of “Pauline Christianity” as the religious point of departure of the occidental history of thought, and the concluding evaluation of religion as the “other” of reason in the argumentation of Jürgen Habermas. The gospels treating the life of Jesus also belong to the history of reception and highlight human freedom, as do the antignostic patristic authors. Autonomous reason is not merely “secular”, but compatible with faith in God.

Alles nur Vernunft? Habermas „übersetzt“ Pascal und Kierkegaard.

DE: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den inneren Spannungen von Habermas’ Übersetzungsbegriff, die besonders in seiner Auseinandersetzung mit den radikalen Subjekttheologien von Blaise Pascal und Søren Kierkegaard auftreten. Hier scheinen existenzielle Bedeutungsdimensionen des Glaubens auf, die in ihrer paradoxalen Unübersetzbarkeit geradezu konsequent nachmetaphysisch sind. Damit bleibt die von Habermas zugewiesene Rolle der Vernunft als exklusives Übersetzungsmedium des Glaubens aber weiterhin fraglich.

EN: This article deals with the inner tensions of Habermas’ concept of translation, which arise particularly in his engagement with the radical subject theologies of Blaise Pascal and Søren Kierkegaard. Here, existential dimensions of the meaning of faith shine through, which in their paradoxical untranslatability are almost consistently postmetaphysical. Thus, the role of reason as the exclusive medium of translation of faith as assigned by Habermas remains questionable.

Impulse von Habermas’ Genealogie für die Selbstverortung des christlichen Glaubens in der nachmetaphysischen Moderne. Eine praktisch-theologische Perspektive.

DE: Jürgen Habermas wendet sich der Genealogie nachmetaphysischen Denkens zu, um aus den Lernprozessen, die anhand des Diskurses über Glauben und Wissen nachvollzogen werden können, das fragile Vertrauen der vernünftigen Freiheit in ihre eigenen Kräfte zu stützen. Doch was bedeuten diese Lernprozesse für den Glauben? Im vorliegenden Beitrag werden praktisch-theologische Impulse für eine entsprechende Selbstverortung des christlichen Glaubens in der nachmetaphysischen Moderne hergeleitet.

EN: Jürgen Habermas turns his attention to the genealogy of postmetaphysical thinking to strengthen the fragile confidence of rational liberty in its own forces due to the insights of the discourse on faith and knowledge. But what do these insights mean for present faith? In this article, practical theological impulses for a self-localization of Christian faith in the postmetaphysical modernity will be deduced

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