In jüngerer Zeit bekamen die Riten der Kirche von unerwarteter Seite eine Bestätigung ihres Gebrauchtwerdens. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht davon, dass diese überkommenen Riten nicht unbedacht aufgegeben werden dürfen, weil sie „semantische Potentiale“, also Sinngehalte in sich bergen, auf die auch heutige Menschen angewiesen seien, für die aber eine säkularisierte Gesellschaft keine Äquivalente biete. Ob die Kirche diese Bedarfsmeldung kurzerhand zur Rechtfertigung und zum Geltungsanspruch ihrer real praktizierten Liturgie ummünzen darf, wäre nochmals zu prüfen. Jedenfalls müssen sich sowohl Liturgietheoretiker als auch Liturgiepraktiker die Frage stellen, ob die von ihnen konzipierte und praktizierte Liturgie tatsächlich jene Sinnpotentiale in sich birgt, die für heutige Menschen notwendig sind.
Prof. Dr. Stephan Wahle, seit 2023 Professor für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.