Angesichts zahlreicher gesellschaftlicher und globaler Krisen von A wie Arbeitskräftemangel bis U wie Ukrainekrieg fällt dieser Tage ein Wort mit auffallender Häufigkeit: Solidarität. Der in „Ethik und Gesellschaft“ (1/2025) erschienene Artikel von Jonas Hagedorn beleuchtet die verschiedenen Facetten des Solidaritätsbegriffes, seine Entdeckung im 19. Jh. und unterschiedliche Verständnisse der Solidarität, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben und teils den großformatigen Organisations- und institutionellen Charakter von Solidarität in modernen Massengesellschaften zu verdecken drohen.
Solidarität zählt zu den zentralen Begriffen, die die politisch-normative Verständigung in Deutschland prägen. Zugleich ist Solidarität mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten versehen. Dadurch wird auch die Unterscheidung zwischen tätiger Nächstenliebe, Hilfestellungen im Kontext von Nahbereichsreziprozität und den Leistungen, die großformatige Organisationen und Institutionen zur Absicherung sozialer Risiken erbringen, aufgeweicht. Da die politische Kultur in Deutschland Fehlvorstellungen von Solidarität verinnerlicht hat, erscheinen Prozesse von Institutionalisierung und Verrechtlichung zunehmend als moralisch fragwürdig. In diesem Kontext werden die nicht-verrechtlichte Verbundenheit und das nicht-verrechtlichte, reziproke Füreinander-Einstehen in sozialen Kleingruppen als moralisch hochstehend erachtet. Solidarität als deskriptiver Strukturbegriff und präskriptives Strukturprinzip zur politisch-normativen Orientierung großformatiger, anonymer Interdependenzen hat es hingegen schwer, als Solidarität anerkannt zu werden, und zieht immer wieder Kritik auf sich. Im Artikel „Moderne Gesellschaft und Solidarität“ wird eine Typologie von Solidaritätsverständnissen vorgestellt, die die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Solidaritätsbegriffs offenlegt. Ferner wird auf die Entdeckung der Solidarität im 19. Jahrhundert als einer empirisch und normativ orientierenden wissenschaftlichen Vokabel eingegangen. Dabei kommen ausgewählte Theorieansätze des französischen Solidarismus zur Sprache, die die katholische Soziallehre beeinflusst haben. Die Emergenz hocharbeitsteilig strukturierter und funktional differenzierter moderner Massengesellschaften wird als Verstehenshintergrund für Solidarität plausibilisiert. Dies könnte helfen, einen oft missverstandenen Begriff erneut zu profilieren und in den politischen Arenen, in denen er zweifellos gebraucht wird, normativ scharf zu stellen.
Hagedorn, Jonas (2025): Moderne Gesellschaft und Solidarität. In: Ethik und Gesellschaft 1/2025: Praktiken und Institutionen der Solidarität – sozialethische und politisch-theologische Perspektiven.