Die Christliche Gesellschaftslehre ist im doppelten Sinne ein ›Differenzierungsfach‹. Einerseits sollen Werte und Normen aufgespürt, differenziert und expliziert sowie – verbunden mit Aspekten Sozialer Gerechtigkeit – in einen politischen Entscheidungskontext gestellt und politisch-gesellschaftliche Alternativen aufgezeigt werden. Andererseits ist das Fach selbst ein ›Kind‹ zunehmender Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften. Es ist – so verstanden – ein modernes Fach innerhalb des Fächerkanons der theologischen Disziplin.
Historisch weist die Christliche Gesellschaftslehre nicht nur akademische Bezüge zu sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen auf, von denen das Fach die faktischen Interdependenzen als moderne gesellschaftliche Ausgangsrealitäten anzuerkennen lernte. Sie ist vielmehr auch in die Schule des politisch-praktischen Bemühens gegangen, um Antworten auf die Soziale Frage zu finden und die Lebensbedingungen der Benachteiligten und Abgehängten der gesellschaftlichen Entwicklung, der Armen, Kranken und Schwachen nachhaltig und effektiv zu verbessern. Für die Christliche Gesellschaftslehre charakteristisch sind daher von Anfang an und bis heute (a) Bezüge zu konkreten Akteuren, z. B. zu alten und neuen sozialen Bewegungen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche, und Bezüge zur kirchlichen Sozialverkündigung und deren Entwicklung, (b) zur kirchlichen Suche nach Wegen und Perspektiven einer gerechten und solidarischen Gesellschaft in der Tradition der biblischen ›Option für die Armen‹. Damit ist eine akteurszentrierte Perspektive auf befreiende, emanzipatorische Praxis angesprochen, die der Christlichen Gesellschaftslehre eigen ist.
Zum weiteren Verständnis des Fachs und seiner Anliegen vgl. die „Notizen zum Fach Christliche Gesellschaftslehre“.